KG, Beschluss vom 18.02.2011 - 1 Ws 38/09 - Ein Längenzuschlag entsteht auch dann, wenn der Pflichtverteidiger als auch der Terminsvertreter
jeweils weniger als 5 bzw. 8 Stunden an einem Hauptverhandlungstermin teilnehmen.
Ein Längenzuschlag entsteht auch dann, wenn der Pflichtverteidiger und Terminsvertreter zwar insgesamt fünf bzw. acht Stunden an einem Hauptverhandlungstermin teilnehmen, jedoch nicht jeder jeweils für sich betrachtet den erforderlichen Zeitrahmen füllt.
Die Vergütung des Pflichtverteidigers und des Terminsvertreters wird im Kostenfestsetzungsverfahren anhand der jeweils aufgewendeten Zeit quotal festgesetzt. Jenes verhindert einen unwürdigen Wettlauf um die Gebühren.
Leitsätze
1. Der Senat hält an seiner ständigen Rechtsprechung fest, dass der für den notwendigen Verteidiger bestellte sog. Terminsvertreter nur die jeweilige Terminsgebühr geltend machen kann, nicht auch die Grundgebühr und die Post- und Telekommunikationspauschale sowie ggf. auch nicht die Verfahrensgebühr.
2. Nehmen sowohl der Pflichtverteidiger als auch der Terminsvertreter (nacheinander) jeweils weniger als fünf Stunden bzw. weniger als bis zu acht Stunden an einem insgesamt mehr als fünf bzw. acht Stunden dauernden Hauptverhandlungstermin teil, entsteht ein sog. Längenzuschlag. Die einfache Terminsgebühr und die zusätzliche Gebühr sind nach dem Anteil der zeitlichen Beanspruchung zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Terminsvertreter zu verteilen.
Entscheidung:
In der Strafsache gegen H. und andere,
hier nur
gegen
Re., geboren am ... in ...,
wegen versuchten Mordes u. a.
hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin
am 18. Februar 2011
beschlossen:
Die Beschwerde der Bezirksrevisorin beim Landgericht Berlin gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 25. Februar 2009 wird verworfen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
Rechtsanwalt D. wurde dem inzwischen rechtskräftig Verurteilten Re., der unter anderem wegen versuchten Mordes vor einer Jugendkammer des Landgerichts Berlin angeklagt war, zum Pflichtverteidiger bestellt. Da Rechtsanwalt D. am Vormittag des 2. Hauptverhandlungstages verhindert war, erschien für den Angeklagten Rechtsanwalt R., den der Vorsitzende „für die Dauer der Verhinderung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt D.“ zum Verteidiger mit der Maßgabe bestellte, „dass keine weitere Gebühr entsteht“. Rechtsanwalt R. nahm an der Hauptverhandlung von 9.00 Uhr bis zum Eintritt der Mittagspause um 10.56 Uhr teil, danach war von 12.36 Uhr bis 17.10 Uhr für den Angeklagten Rechtsanwalt D. anwesend.
Rechtsanwalt D. hat in seinem Antrag auf Festsetzung der Vergütung für den 2. Verhandlungstag neben der Gebühr gemäß Nr. 4120 VV RVG eine zusätzliche Gebühr nach Nr. 4122 VV RVG mit der Begründung geltend gemacht, dass der Termin mehr als fünf Stunden gedauert und für den Angeklagten stets ein Pflichtverteidiger teilgenommen habe. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat im Kostenfestsetzungsbeschluss die zusätzliche Gebühr abgesetzt, da Rechtsanwalt D. keine Abtretungserklärung des Rechtsanwalts R. vorgelegt habe; selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, wäre dem Antrag nicht stattzugeben, weil die Zusatzgebühr weder für Rechtsanwalt D. noch für Rechtsanwalt R. entstanden sei, da beide jeweils unter fünf Stunden in der Hauptverhandlung anwesend gewesen seien. Hiergegen hat Rechtsanwalt D. unter Vorlage einer Erklärung, in der Rechtsanwalt R. seinen Vergütungsanspruch an ihn abgetreten hat, Erinnerung eingelegt. Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss nach Übertragung der Entscheidung vom Einzelrichter auf die Kammer wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß den §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Erinnerung stattgegeben und die Vergütung des Rechtsanwalts auf weitere 211,82 EUR (zusätzliche Gebühr in Höhe von 178,00 EUR nebst anteiliger Umsatzsteuer) festgesetzt. Die dagegen gerichtete, nach den §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 1 und 3 RVG zulässige Beschwerde der Bezirksrevisorin bei dem Landgericht, über die der Senat in der Besetzung mit drei Richtern entscheidet (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 1 Halbsatz 2 RVG), hat im Ergebnis keinen Erfolg.
Rechtsanwalt D. steht die beantragte zusätzliche Gebühr nach Nr. 4122 VV RVG zu.
1. Ist bei einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO der nach § 141 StPO bestellte Verteidiger (Pflichtverteidiger) an der Wahrnehmung eines Hauptverhandlungstermins verhindert, so entspricht die Bestellung eines sog. „Terminsvertreters“ für den Zeitraum der Abwesenheit des Pflichtverteidigers weithin geübter und unbeanstandeter Praxis. Der Gesetzgeber hat allerdings die gebührenrechtlichen Folgen einer solchen Terminsvertretung nicht ausdrücklich geregelt und der Ausgestaltung durch die Judikatur überlassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts entsteht infolge der Bestellung des Terminsvertreters der Gebührenanspruch unmittelbar in seiner Person. Dies wirkt sich nach der wohl überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum dahin aus, dass der Terminsvertreter nur die jeweilige Terminsgebühr, nicht auch die Grundgebühr und die Post- und Telekommunikationspauschale sowie ggf. auch nicht die Verfahrensgebühr geltend machen kann.
Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest. Dass - womit die Gegenauffassung maßgeblich argumentiert - auch bei der Bestellung eines Terminsvertreters ein öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis entsteht und der Terminsvertreter deshalb uneingeschränkt die Rechte und Pflichten eines bestellten Verteidigers hat, steht außer Frage; infolgedessen erwirbt der Terminsvertreter auch einen unmittelbar in seiner Person entstehenden Gebührenanspruch. Daraus folgt entgegen der divergenten Auffassung jedoch nicht, dass die Vergütungsansprüche ohne Rücksicht auf das der Terminsvertretung zugrunde liegende Beiordnungsverhältnis zu bestimmen sind und dass weitere Gebühren ausgelöst werden, die ohne die Terminsvertretung nicht anfallen würden. Dabei würde nämlich der Umstand übersehen, dass der ursprünglich bestellte Verteidiger verpflichtet ist (und in aller Regel diese Verpflichtung durch einen Antrag auf seine Bestellung auch freiwillig übernommen hat), die Verteidigung uneingeschränkt durchzuführen und dementsprechend an allen Hauptverhandlungstagen anwesend zu sein. Kann er dieser Verpflichtung aus in seiner Person liegenden Gründen nicht nachkommen, muss diesem Umstand, der objektiv eine Nichterfüllung seiner Pflichten bedeutet, pragmatisch durch Bestellung eines Terminsvertreters Rechnung getragen werden. Dies darf sich jedoch weder zum Nachteil des Angeklagten, der im Verurteilungsfalle die Verteidigergebühren zu tragen hat, noch zum Nachteil der Staatskasse, die zunächst die Pflichtverteidigervergütung zu verauslagen hat, auswirken. Gewährleistet wird das, indem die Bestellung des Terminsvertreters - wie es auch hier geschehen und von allen Beteiligten akzeptiert worden ist - mit der Maßgabe vorgenommen wird, dass keine weiteren Gebühren entstehen.
2. Nr. 4122 VV RVG regelt, dass die zusätzliche Gebühr in Höhe von 178,00 EUR neben der Terminsgebühr nach Nr. 4120 VV RVG entsteht, wenn der gerichtlich bestellte oder beigeordnete Rechtsanwalt mehr als fünf und bis acht Stunden an der Hauptverhandlung teilnimmt. In dem zu beurteilenden Fall hat der Termin vormittags in Anwesenheit von Rechtsanwalt R. eine Stunde und 56 Minuten und nachmittags in Anwesenheit von Rechtsanwalt D. vier Stunden und 34 Minuten gedauert. Die Verhandlungszeit betrug mithin, da nach der ständigen Rechtsprechung des Senats längere Unterbrechungen für die Mittagspause außer Ansatz bleiben, sechs Stunden und 30 Minuten.
Ob zusätzliche Gebühren gemäß Nr. 4122 VV RVG bzw. Nrn. 4110, 4116 und ähnlichen Vorschriften - sog. Längenzuschläge -entstehen, wenn sowohl der Pflichtverteidiger als auch der Terminsvertreter (nacheinander) jeweils weniger als fünf Stunden an einem insgesamt mehr als fünf Stunden dauernden Hauptverhandlungstermin teilnehmen, und gegebenenfalls wie die in einem solchen Fall angefallenen Gebühren zwischen den beteiligten Rechtsanwälten zu verteilen sind, ist, soweit ersichtlich, in der veröffentlichten Rechtsprechung bisher nicht entschieden worden.
Nach Auffassung des Senats ist in diesen Fällen die zusätzliche Gebühr verdient. Die einfache Terminsgebühr und die zusätzliche Gebühr sind nach dem Anteil der zeitlichen Beanspruchung zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Terminsvertreter zu verteilen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts kann, wie dargelegt, der Terminsvertreter keine höhere Vergütung beanspruchen als der Vertretene hätte geltend machen können. Die Terminsvertretung eines Pflichtverteidigers ist mithin im Ergebnis gebührenrechtlich so zu behandeln, als wenn der Pflichtverteidiger seinem durch die Bestellung erteilten Auftrag selbst vollständig nachgekommen wäre. Dann ist es aber nur konsequent, die Frage der Entstehung des Längenzuschlags ebenfalls danach zu beurteilen, ob dieser angefallen wäre, wenn der vertretene Pflichtverteidiger dem gesamten Termin beigewohnt hätte. Ebenso wenig, wie sich die Terminsvertretung zum Nachteil des Angeklagten bzw. der Staatskasse auswirken darf, indem ein Mehr an Gebühren entsteht, darf sie sich zu deren Vorteil auswirken. So läge es aber, wenn nur die einfache Terminsgebühr anzusetzen wäre, obwohl eine Verteidigungstätigkeit von mehr als fünf Stunden geleistet worden ist.
Die Verteilung der Gebühren, also der einfachen Terminsgebühr (hier Nr. 4120 VV RVG) und des Längenzuschlages (hier Nr. 4122 VV RVG), hat sich nach dem Verhältnis der Zeitanteile zu richten, die der Pflichtverteidiger und der Terminsvertreter aufgewandt haben. Denn das Gesetz selbst bringt durch die Systematik der Längenzuschläge zum Ausdruck, dass dem Maß der für die Verteidigertätigkeit eingesetzten Zeit eine ganz wesentliche Bedeutung zukommt; so verhält es sich im Übrigen auch bei der Bestimmung von Rahmengebühren (§ 14 RVG: „Umfang der anwaltlichen Tätigkeit“) und der Festsetzung/Feststellung von Pauschgebühren (§§ 51, 42 RVG: „besonderer Umfang“). Soweit das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt hat, dass die einfache Terminsgebühr und der Längenzuschlag ungeteilt demjenigen der beteiligten Rechtsanwälte zustehe, „der sie als erster geltend macht“, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Sie könnte unter Umständen, nämlich dann, wenn einer der Rechtsanwälte seinen Gebührenanspruch nicht an den anderen abtritt, zu einem unwürdigen Wettlauf um die Gebühren führen. Dies wird dadurch vermieden, dass die Vergütung des Pflichtverteidigers und des Terminsvertreters im Kostenfestsetzungsverfahren entsprechend den jeweiligen Zeitanteilen festgesetzt wird. Wie die Quote zu bestimmen ist, wenn einer der beteiligten Anwälte mehr und der andere weniger als fünf Stunden an der Hauptverhandlung teilnimmt, insbesondere ob hier der Längenzuschlag aus der Bemessungsgrundlage für die Quote herauszunehmen ist und allein demjenigen gebührt, der in seiner Person die Voraussetzungen für den Längenzuschlag erfüllt hat, kann der Senat offenlassen, da ein solcher Sachverhalt hier nicht vorliegt.
In dem zu entscheidenden Fall beträgt die Quote für die Verteilung der Gebühren zwischen Rechtsanwalt D. (274 Minuten) und Rechtsanwalt R. (116 Minuten) gerundet 70:30. Da Rechtsanwalt R. seinen Gebührenanspruch an Rechtsanwalt D. abgetreten hat, steht diesem der beantragte Längenzuschlag nach Nr. 4122 VV RVG nebst Umsatzsteuer im vollen Umfang zu
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.
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